David Loher

Social Anthropologist PhD

Kompetenzen statt Tools

Überlegungen zur «Vision Masterstudiengang Soziale Arbeit 2025»

12 August 2021

Die letzten 18 Monate waren ein Experimentierfeld für neue Lehr- und Lernformate, insbesondere in Bezug auf Distance Learning und Online-Tools. Der Modus des «Emergency Remote Teaching» (Hodges 2020) hat jedoch kaum Zeit gelassen für eine vertiefte Analyse und Reflexion der Lehre und der gemachten Erfahrungen, sowie für die Diskussion, welche Schlüsse wir aus diesen Erfahrungen ziehen.

Dieser Beitrag skizziert einen konzeptionellen Rahmen, wie sich aus einer Perspektive des Lernens die Erfahrungen der vergangenen Monate reflektieren und einordnen lassen um daraus eine «Vision Masterstudiengang 2025» zu entwerfen. Statt vorschnell von den Werkzeugen her zu denken und die Frage digital versus analog beziehungsweise Remote versus Präsenz ins Zentrum zu stellen, sind die folgenden Überlegungen eine Einladung, die Weiterentwicklung des Masterstudiengangs vom Lernen her zu denken um erst daraus die Frage abzuleiten, welches die geeigneten – digitalen und analogen – Werkzeuge sind um Lernen im Masterstudiengang Soziale Arbeit erfolgreich(er) zu gestalten.

Kompetenzorientierte Hochschullehre

Kompetenzorientierung ist eines der zentralen Paradigmata in der Hochschullehre. Der Begriff verweist auf einen Perspektivenwechsel: weg von einer Orientierung an den Inhalten bzw. dem Input hin zu einer Orientierung am Output, der mess- und beobachtbar ist. Der Fokus liegt mit anderen Worten auf der Frage, was Student·innen am Schluss eines Kurses, Moduls oder des gesamten Studiums können müssen.

Kerngedanke des kompetenzorientierten Unterrichts lässt sich in drei Punkten zusammenfassen: Erstens schliesst kompetenzorientierter Unterricht an das Vorwissen der Student·innen an. Zweitens macht kompetenzorientierter Unterricht zu Beginn (einer Unterrichtseinheit, eines Kurses, eines Moduls oder eines Studiengangs) explizit, was die Student·innen am Schluss können müssen. Drittens orientiert sich kompetenzorientierter Unterricht am Prinzip des constructive alignments (vgl. Biggs 1996). Dies bedeutet, dass nicht nur Lehr- und Lernformate, sondern auch das Assessment von den Learning Outcomes gesteuert wird.

Nach dem Prinzip des Constructive Alignment sind Learning Outcomes, Lehr-/ Lernformate und Assessment aufeinander abgestimmt.

Kompetenzorientierter Unterricht soll dabei nicht als Dogma verstanden werden, sondern als Werkzeug und Hilfsmittel für das Konzipieren eines kohärenten und wirkungsvollen Unterrichts. Für eine umfassende Beschreibung von Lehren und Lernen ist der Kompetenzbegriff hingegen unzureichend, da er einen zu engen funktional-pragmatischen Fokus hat.Für Reichenbach (2012) hat der Kompetenzbegriff mehr eine bildungspolitische Bedeutung, denn einen tieferen analytischen Wert. Er kritisiert, dass der Begrifff wahlweise funktional-pragmatisch reduziert wird oder dann theoretisch überfrachtet und damit unspezifisch wird.

Lernen sichtbar machen

Welche Faktoren haben einen besonders grossen Effekt auf das Lernen? John Hatties “Visible Learning” ist der Versuch, durch die Analyse von hunderten von Meta-Studien die effektivsten Aspekte zu identifizieren, welche für den Lernerfolg entscheidend sind (Hattie 2009).Für eine umfassende Übersicht zu den Einflussfaktoren, vgl. die Visible Learning Database In Bezug auf die Hochschullehre lassen sich seine Erkenntisse folgendermassen zusammenfassen:

The major VL [Visible Learning, D.L.] story can be summarized by six key findings [ … ] 1. When teachers believe their major role is to evaluate their impact (d 0.91); 2. When teachers work together to know and evaluate their impact (d 0.91); 3. When teachers base their teaching on students’ prior learning (what they bring to the lesson; d 0.85); 4. When teachers explicitly inform the students about what success looks like near the start of a series of lessons (d 0.77); 5. When teachers implement programs that have the optimal proportions of surface and deep learning (d 0.71); and 6. When teachers set appropriate levels of challenge and never expect ‘do your best’ (d 0.57). (Hattie 2015, 81)

Ergänzend lässt sich dieser Aufzählung ein weiterer Faktor hinzufügen: kontinuierliches Feedback zum Lernprozess (vgl. Hattie und Timperley 2007). (Regelmässige) formative und (ausgewählte) summative Feedbacks geben den Student·innen Auskunft über den eigenen Lernprozess. Gleichzeitig ist es auch eine wichtige Rückmeldung an die Dozent·in zur Steuerung und Justierung des Lehr- und Lernprozesses.

Anzumerken bleibt,Ein zentraler Kritikpunkt an den Visible Learning Studien ist, dass ihnen eine Theorie der Evaluation zugrunde liegt, welche jegliche Idee von Bildung ignoriert (vgl. Rømer 2019). Dazu kommen Einwände in Bezug auf die eingesetzten statistischen Verfahren (vgl. Bergeron 2017). dass sich die Untersuchungen von Visible Learning auf die messbaren kognitiven Faktoren beschränkt und weitere, nicht-messbare, affektive und soziale Faktoren von Lernen und Lehren ausblendet. Zudem fehlt eine Gewichtung der einzelnen Faktoren.

Fazit: Merkmale guter Hochschullehre

Aus den Überlegungen zum kompetenzorientierten Unterricht und zu den Erkenntnissen der Visible Learning Studien, sowie aus der Kritik daran, lassen sich sechs Merkmale für guten Hochschulunterricht festhalten:

Erstens schliesst gute Hochschullehre an das (individuelle) Vorwissen der Student·innen an. Dies kann zum Beispiel durch (digitale oder analoge) Pre-Learning Assessments erhoben werden.

Zweitens informiert gute Hochschullehre zu Beginn klar und transparent über die Learning Outcomes.

Drittens orientiert sich gute Hochschullehre am Prinzip des Constructive Alignments und stimmt Learning Outcomes, Assessment und Lehr- und Lernformen aufeinander ab. Die Frage, welches Lehr-/Lernformat angemessen ist, bestimmen also aus einer Perspektive des Lernens die Learning Outcomes.

Viertens nutzt gute Hochschullehre (regelmässiges) formatives und (ausgewähltes) summatives Feedbacks um den Student·innen Auskunft zu geben über ihren Lernprozess. Die Dozent·in nutzt dieses Feedback gleichzeitig zur Justierung und Steuerung des Unterrichts.

Fünftens verschafft gute Hochschullehre den Student·innen sowohl einen Überblick über einen Fachbereich (surface learning) und geht gleichzeitig exemplarisch in die Tiefe (deep learning). Dadurch lassen sich umfassende Wissensbestände strukturieren und gleichzeitig Expert·innenwissen aufbauen.

Sechstens hält gute Hochschullehre an einem umfassenden Bildungsbegriff fest und lässt sich nicht reduzieren auf eine Theorie der Evaluation.

Literatur

—Bergeron, Pierre-Jérôme. 2017. ‘How to Engage in Pseudoscience with Real Data: A Criticism of John Hattie’s Arguments in Visible Learning from the Perspective of a Statician’. Translated by Lysanne Rivard. McGill Journal of Education / Revue Des Sciences de l’éducation de McGill 52 (1). https://mje.mcgill.ca/article/view/9475.

—Biggs, John. 1996. ‘Enhancing Teaching through Constructive Alignment’. Higher Education 32 (3): 347–64. 10.1007/BF00138871.

—Hattie, John. 2009. Visible Learning: A Synthesis of over 800 Meta-Analyses Relating to Achievement. London ; New York: Routledge.

—Hattie, John. 2015. ‘The Applicability of Visible Learning to Higher Education’. American Psychological Association 1 (1): 79–91. 10.1037/stl0000021.

—Hattie, John, and Helen Timperley. 2007. ‘The Power of Feedback’. Review of Educational Research 77 (1): 81–112. 10.3102/003465430298487.

—Hodges, Charles, Stephanie Moore, Barb Lockee, Torrey Trust, and Aaron Bond. 2020. ‘The Difference Between Emergency Remote Teaching and Online Learning’. Educause Review 27: 1–12.

—Reichenbach, Roland. 2012. ‘Bildungsreform und Reformkritik’. Swiss Journal of Educational Research 34 (1): 5–20. 10.24452/sjer.34.1.4872.

—Rømer, Thomas Aastrup. 2019. ‘A Critique of John Hattie’s Theory of Visible Learning’. Educational Philosophy and Theory 51 (6): 587–98. 10.1080/00131857.2018.1488216.

Kompetenzen statt Tools - August 12, 2021 - David Loher